Emilie Fruchtzweig geb. Perlstein und Hildegard Perlstein und Hermann Levinstein – Lippestraße 39
Wortbeitrag/Lebenslauf zur Verlegung der Stolpersteine (Perlstein/Fruchtzweig)
Stolpersteine:
Steine, die einen zum Halten bringen
Steine, die einen „stolpern“ lassen
Stolpern – heißt auch: darauf stoßen
Hier an der Lippestraße wohnte – bis zur Deportation – die Familie Perlstein.
Aus dem Westerwald kommend ist sie um 1800 hier ansässig geworden. Über viele Generationen wohnten sie als Bürger in dieser Stadt, brachten sich in das Leben von Dorsten ein und trugen das Leben der Synagogengemeinde wesentlich mit.
Die Perlsteins waren hauptsächlich Metzger und Viehhändler, aber wir finden auch Stuhlbinder und Kaufleute unter ihnen.
Mit dem aufkommenden Nationalsozialismus versuchten Familienmitglieder in fremde Länder zu emigrieren, was einigen geglückt ist. Amalie Perlstein starb im Dezember 1940 und ist das letzte Gemeindemitglied, das auf dem jüdischen Friedhof in Dorsten begraben wurde.
Emilie Perlstein wurde im KZ Litzmanstadt ermordet.
Hildegard Perlstein wurde am 8. 5. 1945 im KZ Riga für tot erklärt.
Das Psalmenbuch ist Gebetsschatz des jüdischen Volkes – Trost, Ermutigung Hilfe und Zuversicht schöpft man aus den Psalmen. So betet man im 94. Psalm:
„…Herr, sie zertreten dein Volk, sie unterdrücken dein Erbteil. Sie bringen die Witwen und Waisen um und morden die Fremden.
Sie denken: Der Herr sieht es ja nicht, der Gott Jakobs merkt es nicht.
…Sollte der nicht hören, der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht sehen, der das Auge geformt hat?
…Ja, der Herr wird sein Volk nicht verstoßen und niemals sein Erbe verlassen.
Wäre nicht der Herr meine Hilfe, bald würde ich im Land des Schweigens wohnen…“
Stolpersteine warnen vor Rassismus und Fremdenhass.
Stolpersteine machen Mut zu Toleranz und einem Miteinander.
Nachkommen der Familie erklärten im Jahr 2001 beim Besuch anlässlich der Benennung des Perlsteinrings im Stadtteil Holsterhausen:
„Unser Besuch in Dorsten ist zu gleicher Zeit schwierig und schmerzlich, aber er trägt auch mit sich eine neue Hoffnung….Heute sind wir in Deutschland und wir denken natürlich an unsere Eltern, die hier wie richtige Deutsche gelebt haben, die ihr Vaterland liebten, und weil sie Juden waren, verjagt und ermordet wurden…
Daß sie (hier) sich mit uns … verbunden fühlen, ist für uns ein Versprechen des Friedens und der Hoffnung…“
Friedenslied:
Shalom chaverim, shalom chaverim. Shalom, shalom!
Le hitraot, le hitraot, shalom, shalom.
Friede, Gefährten, bis zum Wiedersehen.
Paten: Jugendliche der St. Antoniusgemeinde Dorsten-Holsterhausen
Die Rekener Familie Lebenstein/Levinstein und ihr Schicksal (Hermann Levinstein)
Gedenkblatt, das in der Villa ten Hompel in Münster ins Gedenkbuch eingelegt wurde, verfasst von Sarah Rensing
Die Familie Lebenstein besaß ein Kaufhaus für Manufaktur und Modewaren mit einer Schneiderei in Groß Reken, das laut Werbeanzeige in einer Festzeitschrift des Gesangsvereins Lyra bereits seit 1787 existierte. Salomon Lebenstein war lange Jahre Vorsteher der Synagogenuntergemeinde Groß Reken, die 1863 mit der Einweihung eines eigenen Bethauses an der heutigen Dorfstraße entstand. Er verstarb 1889. Sein Sohn Simon Lebenstein wurde im Jahre 1851 geboren und übernahm das Amt seines Vaters nach dessen Tod.
Simon Lebenstein heiratete Johanna, geb. Baer (*1860) und bekam mit ihr drei Töchter und drei Söhne. Die Töchter hießen Anna (* 1883), Selma (* 1884) und Berta (* 1886), die Söhne Albert (* 1888), Salomon und Paul. Salomon und Paul verstarben kurz nach der Geburt und wurden auf dem jüdischen Friedhof in Groß Reken beerdigt.
Nach dem Tod von Simon Lebensteins erster Frau Johanna im Jahre 1891 heiratete er erneut. Aus der zweiten Ehe mit Helene, geb. Anschel (* 1860), gingen folgende Kinder hervor: Fritz (* 1898), Otto (* 1899), Ella Esta (* 1894) und Ernst (* 1895). Die Kinder Ella Esta und Ernst verstarben ebenfalls sehr früh im Jahre 1895.
Simon Lebenstein taucht als Vorsteher der Synagogenuntergemeinde in Groß Reken ununterbrochen von 1903 bis 1917 als Vorstandsmitglied der Synagogengemeinde Borken in deren Protokollen auf. Außerdem war er vor dem ersten Weltkrieg Vorsitzender des Rekener Schützenvereins. Im Jahre 1906 schoss sein Sohn Albert im Alter von 18 Jahren den Vogel ab und wurde Schützenkönig. Als Schützenkönigin wählte er die siebzehnjährige Tochter seines Nachbarn Kötters-Hagemann. Zu diesem Anlass trug diese ihr Kommunionkleid, da wegen der Kürze der Zeit kein anderes Festkleid aufzutreiben war. Damals war es üblich, erst mit fünfzehn Jahren zur Kommunion zu gehen.
1911 heiratete Hermann Levinstein, der aus Sontra in Hessen stammte, die Tochter Simon Lebensteins, Berta, und trat in das Geschäft seines Schwiegervaters ein, das von nun an den Namen trug: „Kaufhaus Lebenstein, Inhaber Hermann Levinstein“. Hermann Levinstein führte das Kaufhaus zur damaligen Blüte. Es beschäftigte 4-5 Schneider, 1 Buchhalter, 3-4 Verkäuferinnen und 3 Hausangestellte, die dort Arbeit und Brot fanden. Hermann Levinstein hatte auch außerhalb von Groß Reken geschäftliche Kontakte und bekleidete Aufsichtsratspositionen bei verschiedenen Banken. Die Familie Lebenstein / Levinstein besaß als eine der ersten in der Gemeinde Groß Reken ein eigenes Auto. Dafür wurde der Chauffeur Heinri Wiesweg eingestellt.
Nach dem Tode Simon Lebensteins 1917 übernahm Hermann Levinstein den Vorsitz des Schützenvereins. 1912 trat er in die freiwillige Feuerwehr Groß Rekens und in den Rekener Kriegerverein ein.
Berta Levinstein unterstützte ihren Mann im Geschäft. Sie half vielen bedürftigen Rekenern in der schweren Zeit nach dem ersten Weltkrieg und gab ihnen unentgeltlich Nahrung und Kleidung. Außerdem unterstützte Berta das Groß Rekener Krankenhaus durch Spenden. Sie wurde von den Rekener Mitbürgern als gute Frau angesehen.
Hermann und Berta Levinstein bekamen im Jahre 1912 eine Tochter, Sophia Johanna Levinstein. Sie besuchte das Ursulinengymnasium in Dorsten und machte dort ihr Abitur. Daraufhin begann sie ihr Medizin Studium.
Albert Lebenstein war ein guter Hautarzt. Viele Rekener Bürger schätzten seine Arbeit sehr. Er eröffnete in Köln eine Facharztpraxis und war häufig in Reken zu Besuch.
Otto Lebenstein war in den Finanzskandal der Groß Rekener Spar- und Darlehenskasse verwickelt, welcher im Januar 1933 vor dem Landesgericht Münster verhandelt wurde. Trotz der wenige Wochen später erfolgten Machtübernahme durch Adolf Hitlers Nationalsozialisten in Deutschland wurde in der Borkener Zeitung an keiner Stelle auf Ottos jüdische “Rassenangehörigkeit“ verwiesen.
Am 7. April 1933 wurde ein Gesetz erlassen, durch welches Beamte “nicht arischer Abstammung” in den Ruhestand versetzt wurden. Dadurch fanden die rassistischen Grundvorstellungen der Nationalsozialisten erstmals Eingang in ein Reichsgesetz. Der „Arierparagraph” wurde in schneller Folge auf andere Berufsgruppen. übertragen und ermöglichte den „legalen Ausschluss” von Juden aus dem öffentlichen Dienst, den freien Berufen, sowie aus Universitäten und Schulen.
Nach dem Erscheinen des Gesetzes wurden auch in Reken die jüdischen Mitbürger ihrer öffentlichen Ämter enthoben.
Hermann Levinstein verlor seine Aufsichtsratspositionen bei den Banken, ebenso seine Ehrenämter im Schützen- und Kriegerverein. Als er aus der freiwilligen Feuerwehr ausgeschlossen wurde, verließen acht weitere namentlich bekannte Mitglieder die Wehr. So zeigten sie ihre Empörung gegenüber der Diskriminierung von jüdischen Mitbürgern.
Sophia Johanna Levinstein musste ihr Medizin Studium im 3. Semester abbrechen, da sie unter den Arierparagraphen fiel.
Wegen dieser ersten Diskriminierung wanderten Selma Lebenstein und ihr Mann Phillip Gumpert, den sie 1909 heiratete, nach Palästina aus. Anna Lebenstein und Otto Lebenstein emigrierten nach Australien. Sophia Johanna Levinstein heiratete 1938 Albert Rosenthal, mit dem sie ebenfalls nach Australien auswanderte. Dort ließen sie ihren Familiennamen ändern und nannten sich fortan Roberts. Sie bekamen einen Sohn, John Albert Roberts, heute Arzt für Psychiatrie in Sydney.
Otto starb im Jahre 1939 und Anna 1963 in Sydney.
1936 hatte sich Berta Levinstein aus Verbitterung über die Diskriminierungen, die sie in Reken ertragen musste, erhängt. Dies schockierte die Bevölkerung in Reken sehr. An der Beerdigung nahmen viele Rekener Bürger teil. Sie gaben ihr die letzte Ehre, obwohl sie unter Umständen Repressalien zu befürchten hatten.
Am 30. 09. 1938 wurde allen jüdischen Ärzten die Approbation aberkannt, woraufhin Dr. Albert Lebenstein sein Testament verfasste, welches er der Familie Logermann schickte. Er hatte zu befürchten, sein für ihn lebenswichtiges Medikament Insulin nicht mehr zu erhalten. Eine Woche nach Kriegsbeginn, am 07. 09. 1939, beging Albert Lebenstein in Köln Selbstmord. Auch er wurde, wie seine nichtjüdische Frau Luzie Brüggemeyer, die bereits in den 20-er Jahren gestorben war, auf dem jüdischen Friedhof in Groß Reken beigesetzt. Die Familie Logermann (Riesweg) veranlasste die Überführung von Köln nach Reken, die Beisetzung und auch die Grabpflege, solange es ihr möglich war.
Hermann Levinstein hielt nach dem Tod seiner Frau das Geschäft noch knapp zwei Jahre aufrecht.
Am 12.11.1938 wurde ein Gesetz erlassen, welches Juden das Führen von Einzelhandelsgeschäften und Handwerksbetrieben sowie das Anbieten von Waren aller Art verbot. Aus diesem Grunde konnte Hermann Levinstein sein Geschäft nicht mehr halten und verkaufte es an Heinrich Viefhues.
Er wurde gezwungen Reken zu verlassen und zog nach Dorsten in eine Wohnung, aus der er in ein speziell für Juden eingerichtetes Ghetto umgesiedelt wurde. Am 21.01.1942 erfolgte zusammen mit anderen Juden aus Dorsten die Deportation nach Riga. 1943 wurde er von einem Rekener Soldaten in einem Arbeitslager bei Riga angetroffen, der noch einige Worte mit ihm wechseln konnte. Hermann Levinstein gilt als verschollen, doch es ist sicher, dass er ermordet wurde.
Auch Fritz Lebenstein (* 1898) wurde in einem KZ umgebracht.
Hanni Roberts, geborene Levinstein, ist am 03.08.2005 im Alter von 92 Jahren in Sydney verstorben.
Paten: die Ev. Religionsklasse 7c/d (2007/08) des Gymnasiums St. Ursula Dorsten mit ihrem Lehrer Henner Maas
Fotos der Verlegung (H. Levinstein): Quelle WAZ